Interview mit Renate Künast (MdB Bündnis 90/Die Grünen) zu 25 Jahre Mauerfall in Berlin

07.11.14 –

Wie hast Du den 9. November 1989 erlebt?

RENATE: Das werde ich nie vergessen, wie auf der Senatssondersitzung ein Polizist dem Innensenator ein Telex übergab: "Soeben haben Tausende Menschen den Übergang an der Bornholmer Brücke durchbrochen. Es wurde nicht von der Schusswaffe Gebrauch gemacht." Nach der Senatssitzung schickten SPD und Grüne sofort Mitarbeiter los, um Willy Brandt einzuladen. Und ich bin mit Freunden sofort zur Brücke: es war ein großes Hin und Her, Ost und West, Umarmungen und Küsse. Es war dann nicht alles einfach, aber es war und ist: einfach schön.

Welche Ereignisse der damaligen Wochen und Monate sind Dir besonders in Erinnerung geblieben, weil sie Dich politisch und persönlich nachhaltig geprägt haben?

RENATE: Als Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin war das für mich auch eine große Herausforderung. Die Alternative Liste (AL) regierte zusammen mit der SPD zum ersten Mal in Berlin mit. Und als die Mauer fiel, übernahm Rot-Grün quasi über Nacht die Aufgabe, die Einheit Berlins wiederherzustellen.

Unvergesslich für mich bleibt daher, wie sich die frei gewählte Stadtverordnetenversammlung in Ost-Berlin konstituierte und eine neue Ära begann. Aus dem West-Berliner Senat und dem Ost-Berliner Magistrat wurde der „MagiSenat“. Ein gemeinsamer Einheitsausschuss wurde gegründet. Wir fuhren mit Schmierzetteln hin und her, über die alte Grenze. Handys gab es kaum, nur ein paar überdimensionierte Geräte. Die Parlamentskollegen Ehrhart Körting (SPD), Klaus Finkelnburg (CDU) und ich, auch FKK-Gruppe genannt, bereiteten auf westlicher Seite die rechtliche Einheit Berlins vor. Selten haben zwei Parlamente und Regierungen so viel gearbeitet wie wir damals, mit viel Vertrauen zueinander.

Wie beurteilst Du den Prozess der Einheit rückblickend?

RENATE: Die Einheit war ein Prozess, bei dem die Annahmen von heute auch schon mal nach fünf Minuten überholt waren. Das hatte alles eine wahnsinnige Dynamik, es war eine Abstimmung mit den Füßen, aber im Wesentlichen ging es fair zu. Im Nachhinein hatte es wohl die Bürgerbewegung der DDR am schwersten.

Auch hat die Einheit gezeigt: Freiheit und Gerechtigkeit gehören zusammen – und beide müssen immer wieder neu errungen und gesichert werden. Die Mauer und ihr Fall sind in dieser Hinsicht ein Lehrstück für Politik. Und die Deutsche Einheit ist es noch viel mehr. Die deutsche Einheit ist ein Symbol für Freiheit und Selbstbestimmung und ein Beitrag dazu, Deutschland europäischer zu machen.

Wie beurteilst Du den Prozess der Vereinigung vom Bündnis 90 und Die Grünen aus dem heutigen Blickwinkel?

RENATE: Es gab viele Bündnisse und Vereinigungen, die die gleichen Wert- und Weltvorstellungen wie die Alternative Liste/die Grünen damals hatten. Als sich 1991das Bündnis 90 formell als Partei gründete, schlossen sich die Bewegungen Demokratie Jetzt und die Initiative für Frieden und Menschenrechte fast vollständig an und vom Neuen Forum kamen auch etwa die Hälfte der Mitglieder hinzu. Schließlich unterzeichneten Bündnis 90 und DIE GRÜNEN im November 1992 einen Assoziationsvertrag, der 1993 durch die Mitglieder große Zustimmung fand.

Um unsere gemeinsamen Überzeugungen auch gegen das alte Parteien-Establishment zu behaupten, war ein starkes Bündnis, wie wir es damals schlossen, von großer Bedeutung. Die Gründung von Bündnis 90/Die Grünen gehört für mich daher zu den wichtigsten grünen-politischen Ereignissen. Ein großer Schritt, den wir auch mit dem neuen Namen dokumentieren.

Was hat dich am ganzen Prozess am meisten beeindruckt?

RENATE: Eigentlich Solidarność, denn mit dieser politischen Bewegung hat doch die Bewegung in den ehemaligen Ostblockstaaten an Fahrt aufgenommen. Dort und in den anderen Ländern gab es sehr mutige Menschen. Wenn man heute durch Deutschland oder die EU geht, denken wir viel zu selten daran. Das war ein großes Geschenk!

Vielen Dank für das Interview!

Kurzbiographie

Renate Künast ist studierte Sozialarbeiterin und Rechtsanwältin. Der Westberliner Alternativen Liste trat sie 1979 bei und hat seitdem in verschiedenen Funktionen für die Partei gearbeitet. Während der rot-grünen Koalition in Berlin in den Jahren 1989/90 war sie Fraktionsvorsitzende. Von Juni 2000 bis März 2001 war sie Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und ab Januar 2001 bis zum 4. Oktober 2005 Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Danach war sie acht Jahre Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Seit Januar 2014 ist sie Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz.